Stephen Rodgers (Hg.)

The Songs of Fanny Hensel

Oxford University Press 2021

Der Herausgeber dieses Bandes, Stephen Rodgers, findet ein eindrucksvolles Bild für den Bedeutungszuwachs, den Fanny Hensel in den letzten 40 Jahren in der Musikforschung erfahren hat: Im Grove Dictionaire of music and musicians des Jahres 1980 waren ihr in einem Artikel drei Absätze gewidmet. Der jüngste Artikel im Grove music online aus dem Jahr 2018 umfasst 81.

Auf der Basis der bisher veröffentlichten Literatur zu Fanny Hensel arbeitet Rodgers die Beweggründe heraus, welche zur Veröffentlichung der Sammelpublikation The Songs of Fanny Hensel führten, einer Publikation, die das Liedschaffen der Komponistin aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Zum einen wird Fanny Hensel selbst herangezogen, die in einem Brief vom 17. Februar 1835 an ihren Bruder, Felix Mendelssohn Bartholdy, schrieb: „Daher gelingen mir am besten Lieder.“ Wenn diese Aussage auch dadurch relativiert wird, dass Fanny Hensel in diesem Brief darlegt, warum ihr kompositorisch alles andere eben nicht gelänge, so wird sie doch durch die Auswahl der Lyriker bestätigt, die sie für ihre Lieder bevorzugte und die daher auch Gegenstand dieses Bandes sind: Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine, Lord Byron, Nikolaus Lenau und Joseph von Eichendorff.

Darüber hinaus wird die Veröffentlichung mit der bibliografischen Verfassung der insgesamt 249 Lieder Hensels begründet. Von denen liegen bis heute nur 150 gedruckt vor. 100 sind Handschriften, die sich überwiegend in der Staatsbibliothek zu Berlin befinden.

An dritter Stelle aber wird ein Motiv aufgeführt, um dessentwillen diese Publikation allein schon lesenswert ist. Unter Berufung auf die Veröffentlichungen der Musiktheoretikerinnen Laurel Parsons und Brenda Ravenscroft (Analytical Essays on Music by Women Composers, New York 2016) wird gezeigt, dass der Anteil an Veröffentlichungen über komponierende Frauen in den letzten 20 Jahren zwar signifikant gestiegen ist, über ihre Werke jedoch bisher erschreckend wenig geschrieben und diskutiert wurde. Dieser Tendenz will der Band The Songs of Fanny Hensel entgegenwirken. Er nähert sich der Komponistin nicht über die Erörterung ihrer soziokulturellen Lebensbedingungen, sondern über die fundierte Analyse ihres Liedwerks. Das intime Verständnis ihrer Musik sowie die genaue Kenntnis ihrer Arbeitsweisen und ihres Umgangs mit Sprache ermöglichen einen neuen Zugang zu Fanny Hensel als Komponistin und eröffnen bisher unbekannte Perspektiven und dies unter anderem auch auf genderspezifische und persönliche Aspekte ihres Lebens.

Der Band ist in 5 Themengebiete gegliedert. Jedes dieser Gebiete verortet die Lieder von Fanny Hensel in einem größeren biografischen, historischen oder musikalischen Kontext, der sich bereits in den Überschriften erschließt: „Nature and Travel“, „Settings of English Verse“, „Tonal Ingenuety“, „Responses to poetic form“, „Beyond Hensel, Beyond song“. Unter diesen Themenfeldern sind insgesamt zwölf Kapitel mit Aufsätzen unterschiedlicher AutorInnen zusammengefasst, von denen hier nur einige exemplarisch behandelt werden können.

Scott Burnham widmet sich im dritten, „Waldszenen and Abendbilder“ überschriebenen Kapitel, Liedern der Komponistin, die auf Gedichten von Nikolaus Franz Niembsch von Strehlenau basieren, bekannt unter dem Pseudonym Nikolaus Lenau. An dessen Gedichten „Kommen und Scheiden“, „Vorwurf“, „Traurige Wege“, „Abendbild“ (die Nr. 3 aus F. Hensels Liederzyklus op. 10) und „Bitte“ (die Nr. 5 aus ihrem Op. 7) wird das tiefe poetische Verständnis und die Vielfalt der kompositorischen Mittel von Fanny Hensel verdeutlicht. Die genaue Untersuchung lyrisch-musikalischer Parameter, wie Rhythmus, Melodieführung und harmonische Struktur macht Lenaus und Hensels Umgang mit den großen romantischen Themen – Wald, Abenddämmerung und Nacht – plastisch und lebendig. Der Versuch, in dem letzten Abschnitt dieses Aufsatzes über biografische Parallelen zwischen Hensels Tod am 14. Mai 1842 und der Überweisung Lenaus in eine Psychiatrie bei Wien eine Wesensnähe zu untermauern, bewirkt allerdings das Gegenteil. Er distanziert den Dichter und die Komponistin, welche zuvor in der detaillierten Analyse der Text-Vertonungen poetisch untrennbar schienen.

Die artifizielle Voraussetzung zu den frühsten englischen Vertonungen Fanny Hensels greift Jennifer Ronyak im 5. Kapitel „The Private Cosmopolitanism in Literacy Translation and Song“ auf. Im Zentrum stehen zwei Gedichte Heinrich Heines aus Die Heimkehr, welche von der in London lebenden Schottin Mary Alexander sehr eigenwillig in das Englisch/Schottische übersetzt wurden und über Umwege in Fannys Hände gerieten, die sie 1834 vertonte. Ronyak nimmt diese komplizierte und vielschichtige Entstehungsgeschichte einer Komposition zum Anlass, daraus das komplexe Bild eines weiblichen privaten Kosmopolitismus zu entwickeln. Dessen Praktiken und Phänomene legt sie anhand des spezifischen Umgangs Fanny Hensels mit diesem Textmaterial präzise dar.

Mit der Vertonung des Byron-Gedichts „There be none of Beauty’s daughters“ beschäftigt sich Susan Youens im 6. Kapitel unter dem Titel „In this elusive language“. Sie nähert sich der Vertonung von Fanny Hensel aus einer linguistischen Perspektive und vergleicht den Klang und Rhythmus der Sprache des Byron-Gedichts (1816) mit dem Klang und Rhythmus der Komposition Hensels (1836). Einer von der Musik isolierten, literaturwissenschaftlichen und auf den rhythmischen, phonetischen und semantischen Besonderheiten der englischen Sprache Byrons basierenden Analyse stellt sie eine musikalische Analyse der Vertonung gegenüber und zeigt so, wo es Kongruenzen, Synthesen und wo es Asymmetrien und Dissonanzen gibt. Verbunden werden diese beiden Abschnitte durch einen interessanten Mittelteil, welcher der spekulativen Frage nachgeht, über welche biografischen Informationen zu Lord Byron die Komponistin bis zur Zeit der Niederschrift dieses Lieds im Jahr 1836 hätte verfügen können. Es ist die Stärke dieses Aufsatzes, dass er der Frage nur insofern nachgibt, als dass er den LeserInnen eine beeindruckende Übersicht zu bis dahin veröffentlichten Byron-Werken liefert, nicht aber nach einer Antwort sucht. 

Der 12. Aufsatz des Bandes stammt von R. Larry Todd. In seinem Titel „Fanny Hensels Lieder (ohne Worte) and the Boundaries of Song: The Curious Case of the Lied in D♭ major, Op. 8, No. 3“ zeigt sich bereits die poetische Dimension des Textes, indem er auf ein romantisches Paradox verweist, das von Fanny Hensel und ihrem Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy bis zum Äußersten gesteigert wurde: das Lied ohne Worte. Dieses Paradox wird zugleich zur ironischen Grundlage des Aufsatzes. Er hat das Lied op. 8 Nr. 3 in Des-Dur zum Gegenstand, eine Komposition Fanny Hensels, die „Lied“ in ihrem Titel trägt, aber ein Instrumentalwerk ist, mit dem das Buch zu den Liedern Fanny Hensels endet – ein Gruß aus der Welt der romantischen Spiegelungen und Paradoxien eines E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls. Dem Werktitel Lied folgt in der Erstausgabe des op. 8 Nr. 3 die rätselhafte Paranthese „(Lenau.)“. Dies veranlasst Larry Todd zu einer Spurensuche. Er widmet sich zunächst der bis heute ungelösten Frage nach dem Ursprung der Bezeichnung „Lied“ für die zahlreichen Klavierkompositionen der Mendelssohn-Geschwister Fanny und Felix und schildert jene Konfusion, welche die erste Ausgabe der „Lieder ohne Worte“ (FMB op. 19, Bonn 1833) unter Zeitgenossen auslöste.

Über den Poetik-Begriff Robert Schumanns plausibilisiert Todd die Möglichkeit eines unterdrückten poetischen Textes, der den „Liedern ohne Worte“ unterliegt, bei denen das Klavier zwei Rollen übernimmt: die des Vokalsolisten und die der Begleitung. Dass Fanny Hensel diese Technik des unterdrückten Textes tatsächlich praktizierte, weist Todd an dem Andante cantabile aus Fanny Hensels „Vier Lieder für das Pianoforte“ op. 6 nach. Das Autograph aus dem Jahr 1846 vermerkt die Schlusszeile „O Traum der Jugend, o goldner Stern“ aus dem Goethe-Gedicht „Lauf der Welt“. In der Druckausgabe von 1847 fehlt jeder konkrete Bezug zu diesem Text. Er hat aber seine Spur im Metrum der Musik hinterlassen. Der Autor zeigt im Verlauf des Aufsatzes an einigen Notenbeispielen, wie Fanny Hensel jene Texte cachierte, welche ihren Instrumentalkompositionen als poetische Folie unterlegt waren. Letztlich kommt er zu dem Schluss, dass das mit „Lenau“ untertitelte Lied op. 8 Nr. 3 durch Verse des Dichters stimuliert sein könnte, diese aber bis heute nicht zu dechiffrieren seien. 
 
Im Vorwort zu The Songs of Fanny Hensel heißt es: „Die Autoren dieses Bandes sind davon überzeugt, dass die beste Möglichkeit, Hensels Leistungen als Komponistin zu würdigen, darin besteht, die von ihr geschriebenen Lieder in ihren unterschiedlichen Kontexten gründlich zu untersuchen.“ Dieser Intention werden die Autoren und Autorinnen dieses Buches gerecht. Auch wenn an dieser Stelle nur einige wenige Aufsätze dieses Bandes besprochen wurden, konnte an ihnen bereits gezeigt werden, wie viele Facetten der Komponistin Fanny Hensel zu Tage treten, wenn man sie auf angemessene Weise behandelt und ihr Werk in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Der formale Aufbau dieses Buches und jeder seiner Beiträge tragen mit ihrer Genauigkeit nachhaltig zur Sichtbarmachung des Werks von Fanny Hensel bei. 

 

Übersicht über den Inhalt des Bandes
 
Chapter 1 Introduction
 
Part I Nature and Travel

Chapter 2
Amanda Lalonde
The Wilderness at Home: Woods-Romanticism in Fanny Hensel’s Eichendorff Songs
 
Chapter 3
Scott Burnham
Waldszenen and Abendbilder: Fanny Hensel, Nikolaus Lenau, and the Nature of Melancholy
 
Chapter 4
Susan Wollenberg
Songs of Travel: Fanny Hensel’s Wanderings
 
Part II Settings of English Verse

Chapter 5
Jennifer Ronyak
Women’s Private Cosmopolitanism in Literary Translation and Song: Fanny Hensel’s Drei Lieder nach Heinrich Heine von Mary Alexander
 
Chapter 6
Susan Youens
„In this elusive language“: A Byron Song by Fanny Hensel
 
Part III Tonal Ingenuity

Chapter 7
Tyler Osborne
„You too may change”: Tonal Pairing of the Tonic and Subdominant in Two Songs by Fanny Hensel“
 
Chapter 8
Stephen Rodgers
„Plagal Cadences in Fanny Hensel’s Songs“
 
Part IV Responses to Poetic Form

Chapter 9
Harald Krebs
Working with Words: Revisions of Declamation in Fanny Hensel’s Song Autographs
 
Chapter 10
Yonatan Malin
Modulating Couplets in Fanny Hensel’s Songs
  
Part V Beyond Hensel, Beyond Song

Chapter 11
Jürgen Thym
Reading Poetry Through Music: Fanny Hensel and Others
 
Chapter 12
R. Larry Todd
Fanny Hensel’s Lieder (ohne Worte) and the Boundaries of Song: The Curious Case of the Lied in D♭ major, Op. 8, No. 3

 

Rezension verfasst von Andrea Klitzing
 
 
 
 
 

The Songs of Fanny Hensel