Ein Wort zu Jean Paul
JS: Es ist an der Zeit, die Jenaer Frühromantik zu verlassen. Mit der Nennung von E. T. A. Hoffmann haben Sie ja bereits angedeutet, dass Jean Paul nur begrenzt auf die historische Romantik wirkte. Gleichwohl hätte Jean Paul, der ja selbst den Humor als das romantische Komische bezeichnet, nach seinem Eigenverständnis diese Bezeichnung nicht gänzlich von sich abgewiesen, was natürlich nicht heißen muss, dass er nach unserem heutigen Verständnis Romantiker ist. Inwieweit ist Jean Paul für Sie Romantiker?
RS: Zunächst möchte ich auf die oft wenig beachtete historische Semantik von romantisch/Romantik eingehen. Die Jenaer Frühromantik ist zunächst eine Insiderepoche geblieben. Die Debatten, die in diesen Kontexten den Terminus des Romantischen benutzt haben, spielten sich in einem sehr engen Personenkreis ab. Es war wohl erst Heinrich Heines Buch Die romantische Schule (1836), das den Begriff der Romantik im Sinne unseres heutigen Verständnisses etabliert hat. Um 1800 oszillieren im Terminus mehrere Bedeutungen. Zunächst ist Romantik die Bezeichnung für die romanische Literatursphäre, primär also für die Literaturen Frankreichs, Spaniens, Italiens. Sodann ist romantisch ein Verweis auf das Genre des Romans. Aus der Kombination dieser beiden Bedeutungen erwächst die Referenznahme auf Ritterromane in französischer, spanischer, italienischer Sprache. Da mit dieser Sphäre zugleich eine christliche Semantik verbunden ist, ist die romantische Literatur nicht selten, gewiss aber bei Jean Paul auch die christliche Literatur. So jedenfalls ist die Begriffssemantik im V. Programm der Vorschule der Ästhetik (Über die romantische Dichtkunst) zu verstehen. Jean Paul meint hier nicht die deutsche Romantik, sondern überhaupt die auf das Unendliche zielende Literatur, vor allem also die christliche, aber überraschenderweise auch Platon oder indische Epen. Es gibt also um 1800 einen Begriffsgebrauch des Terminus Romantik/ romantisch bei Jean Paul, den man nicht als Bezugnahme auf die deutsche Frühromantik oder spätere Phasen der deutschen Romantik missverstehen darf. Jean Paul rechnet zwar Autoren wie Novalis, Tieck, Schlegel, Brentano dieser von ihm als Romantik bezeichneten Literatur zu, aber konzeptionell tut er dies in dem skizzierten, für unsere heutige Begriffssemantik durchaus gewöhnungsbedürftigen Kontext.
E.T.A. Hoffmann ist ein interessanter Fall. In der ersten Biographie, die sein Freund Julius Eduard Hitzig schreibt, finden wir die Nebenbemerkung, dass eben dieser Hitzig ihn 1807 auf die Romantik aufmerksam machte. E.T.A. Hoffmann ist also ziemlich spät in die Bekanntschaft mit der romantischen Bewegung geraten, und zwar zuerst als Leser. Sein Eintritt in diese Literatursphäre erfolgt durchaus unter Jean Paul’schen Prämissen. So bittet er sein Vorbild auch darum, das Vorwort zu Fantasiestücke in Callot’s Manier zu schreiben. Ich halte nicht für ausgemacht, ob die Romantik oder Jean Paul die größere Vorbildfunktion für E.T.A. Hoffmann bildete. Noch in der Prinzessin Brambilla gibt es eine aufschlussreiche Stelle, in der Ironie und Humor fast gleichgesetzt werden: „[...] nichts anders, als was wir Deutschen Humor nennen, die wunderbare, aus der tiefsten Anschauung der Natur geborne Kraft des Gedankens, seinen eignen ironischen Doppeltgänger zu machen, an dessen seltsamlichen Faxen er die seinigen und – ich will das freche Wort beibehalten – die Faxen des ganzen Seins hie nieden erkennt und sich daran ergötzt.“ – Doppeltgänger (mit ›t‹) ist übrigens ein von Jean Paul erfundenes Wort (s. Komischer Anhang zum Titan).
E.T.A. Hoffmann ist ebenso wie Jean Paul Dualist. Er ist es auf spektakulärere Weise, indem ein Handlungsträger durch einen plötzlichen Zauberschlag unvermittelt in ein Gegenreich – meist eine Feenwelt – versetzt wird und die Handlung dann darin besteht, diese Zwei-Welten-Konstruktion wieder zu einer intakten Welt zusammenwachsen zu lassen. Der metaphysische Schabernack, der aus dem Wechsel zwischen den zwei Welten entsteht, erzeugt jene spektakulären Szenarien, die E.T.A. Hoffmanns Literatur so erfolgreich gemacht hat. Jean Paul ist schnell auf Distanz zu seinem Nachfolger gegangen. Eine unmittelbar sich aus nichts heraus konstituierende Gegenwelt widerstrebte seiner der Aufklärung verpflichteten Redlichkeit. Für Jean Paul ist der Ort des Wunderbaren in der Einbildungskraft gegeben, nicht aber in der ontologisch ersten Welt. Die Einbildungskraft kann die Wahrnehmung der Dinge massiv verändern, aber die auktoriale Steuerung des Erzählten stellt bei Jean Paul immer sicher, dass die Magie der Einbildungskraft nur zu einer eingebildeten zweiten Welt führt. Es zeigt sich erneut, dass Jean Paul die Insistenz des Realen nicht außer Kraft setzt, trotz aller Metaphysik.
Das Verhältnis Jean Pauls zur deutschen Romantik ist ein äußerst komplexes. So wie ich Jean Paul bislang beschrieben habe, besitzt er die theoretischen und literarischen Mittel, fast alles, was die Frühromantik sich philosophisch ausgedacht hat, als Literatur in Performanz zu übersetzen. Es verwundert nicht, dass es möglich ist, Jean Paul trotz aller Differenz der Romantik zuzuordnen. Man denke an den Roquairol aus dem Titan, der ein Trauerspiel schreibt, in der Uraufführung die Hauptrolle spielt und sich in der Schlussszene eine tatsächliche Kugel in den Kopf jagt. Das sind Szenen der inszenierten Reflexionsphilosophie, von denen ich zwar glaube, dass sie mit der Begrifflichkeit des Humors am angemessensten gedeutet werden können, die sich aber gleichwohl einer Einlesung in die Romantik nicht widersetzen.
Jean Paul sieht das romantische Bedürfnis, er inszeniert auch dessen Dispositive, aber unbarmherzig fällt sein kritisches Urteil aus. Das bleibt auch in der Zeit der französischen Fremdherrschaft und der deutschen Befreiungskriege so. Während die Romantiker politisch und konfessionell auf die Seite der Reaktion wechseln, bleibt Jean Paul aufklärerisch und sieht in Napoleon eben auch den bürgerlichen Fortschritt, zum Beispiel im Rechtssystem. Die Literatur, die er zwischen 1805 und 1820 schreibt, ist sehr weitgehend publizistischer Art; sie richtet sich vornehmlich gegen die politische Romantik. Es handelt sich um etliche sehr dicke Bände in der Gesamtausgabe, die bislang fast gar nicht erforscht sind.
JS: Bei Jean Paul kommt es demnach zu einem Kippen zwischen der empirischen Wirklichkeit und einer metaphysischen zweiten Welt, die jedoch gestoppt werden kann, wenn das Romantische in Jean Pauls Texten als rationalisierbar und damit auch als relativierbar erscheint. Ungeachtet dieses skeptischen Tenors scheint mir doch Jean Paul vielerorts zur Empathie, wenn nicht zur Identifikation, mit dem romantischen Bedürfnisse seiner hohen Menschen einzuladen. Im gemeinsamen Interesse am Unendlichen scheinen sich Jean Paul und die Romantik zu begegnen und auch zu scheiden, wenn Jean Paul stets eine Distanz zum romantischen Schwärmer wahrt.
Ich finde es schön, dass Sie mit Blick auf Jean Pauls große publizistische Tätigkeit einen Hinweis gegeben haben, wo es für die Forschung noch etwas zu tun gibt. Mit ihr ließe sich sicherlich noch besser verstehen, weshalb Jean Paul im Gegensatz zur Romantik von der politischeren Autorengeneration der 1830er/1840er geschätzt worden ist. Zu seinen Lebzeiten war Jean Paul für seine nicht-literarische Schriften, wie sein Erziehungsratgeber Levana oder Erziehlehre, mindestens genauso bekannt wie für seine Romane. In diesem Gespräch habe ich die Aufmerksamkeit auf eher klassische Fragen der Jean Paul Forschung gelenkt, wie das Verhältnis von Ironie und Humor. Welche Fragen hätten Sie in diesem Gespräch noch gerne diskutiert?
RS: Welche Fragen ich gerne noch diskutiert hätte? Anlass und Thema unseres Gesprächs war der Abgleich Jean Pauls mit der Frühromantik. Das ist durchaus ein legitimes Anliegen. Aber man muss sich klarmachen, dass diese Frage nicht vom inneren Kern des Jean Paul’schen Werks her gestellt ist. Die Auseinandersetzung Jean Pauls mit der Klassik wäre literaturgeschichtlich ein ebenso lohnendes Feld. Weil wir von der Frühromantik ausgegangen sind, ist unsere ganze Debatte sehr philosophisch gewesen, metaphysische Grundkonzepte waren zu klären. Jean Paul kann da mithalten, zweifelsohne, aber er ist doch vor allem ein Schriftsteller, der eine wirklich große Prosa schreibt. Darüber wäre viel intensiver zu reden, ginge es um Jean Paul allein. Gegen Ende unseres Gesprächs möchte ich also in diese Richtung gehen.
Mit den Romanen Die unsichtbare Loge, Hesperus und Titan schreibt Jean Paul die Tradition des höfischen Staatsromans fort. Er tut es satirisch und als politisch heller Kopf. Die Basis seiner Fabelstruktur ist die Geschichte vom Inkognito erzogenen Prinzen, der fern des Hofes unter bürgerlichen Bedingungen zu einem guten Menschen erzogen wird, um dann als Reformfürst die Herrschaft zu übernehmen. Damit entsteht die Opposition von bürgerlicher Moral und politisch delegitimierter Machtausübung des Absolutismus: Jean Paul partizipiert also an einem Grundschema der politischen Aufklärung. Im Titan liest sich das Personal mitunter als Allegorie des Weimarer Musenhofes, so dass eine scharfe Hinrichtung des Weimarer Modells entsteht. Diese drei Staatsromane eröffnen also das Debattenfeld von Geist versus Politik, von Aufklärung versus Herrschaftskritik. Jean Pauls Beitrag zu diesen Fragen ist auf dem Niveau von Lessing, von Goethe und Schiller, von Kleist – aber seine Texte wurden kaum je in dieser entscheidenden Dimension gelesen. Es mag daran liegen, dass die Staatshandlung in diesem Romanen so unglaublich komplex ist und zudem von Digressionen und humoristischen Exaltationen überlagert wird. Aber es gibt in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts kaum eine anspruchsvollere Gesamtreflexion dieser ganzen Fragen der politischen Organisation von Herrschaft unter voller Würdigung der geistigen Existenz aller Beteiligten.
Jean Paul schreibt über die Herrschaftssphäre des Hofes, aber bekanntlich ist er auch als Jakobiner bezeichnet worden, da er in wissender Konkretheit die Sphäre der Armut ins Bild setzen kann. Diese drei Staatsromane, im Zusammenhang gelesen und gegebenenfalls durch den vollkommen kuriosen Spätling Der Komet (1820/2) ergänzt, bilden die komplette Enzyklopädie des aufklärerischen Diskurses ab, erörtern alle seine Probleme, inszenieren in atemberaubender Virtuosität die dafür notwendigen Sprechweisen und Stilhaltungen. Man fragt sich manchmal, was eigentlich mit der Germanistik los ist, die endlose Exegesen zu Goethes Wilhelm Meister verfertigt, von Jean Paul aber weithin schweigt.
Das hört sich so an, als wäre Jean Paul der Autor vor allem der großen Umfänge. Titan und Hesperus reichen jeweils an die 1000 Seiten heran, auch die anderen Romane sind nicht kurz geraten. Aber hochinteressant ist auch, dass Jean Paul ein recht genaues Wissen von der kleinen erzählerischen Form gehabt hat. Mitten in seinen Prosatexturen finden sich plötzlich wunderbare narrative Tableaus, in denen kein Wort zu viel steht, Meisterwerke der sprachlichen Verdichtung, wie zum Beispiel dieses:
„Ein Graf A-a, der sein wichtiges Empfehlungsschreiben dem Minister B-b zu überreichen hatte, suchte aus Umständen noch spät abends zu Fuße dessen Haus, konnte aber weder dieses noch sich selber recht finden, ob er gleich jedes Haus doppelt sah und die Gegenstände um ihn noch stärker umliefen als er selber. Zum Glück legte das Wenige, was er über das Viel zu viel getrunken, ihn in eine Gosse seitwärts hinein. Unten fand er schon Herz und Brust eines andern Herrn, der aus ähnlichen Gründen sich nach den Gesetzen der fallenden Körper gerichtet hatte. Schrecklich fluchte der untere Herr über den ungeschliffenen Menschen, der sich auf ihn heruntergebettet habe; ob er denn nicht wisse, befragte er den Grafen, daß er den Minister B-b vor sich habe. ‚O entzückend, hinreißend!‘ – rief der Graf vor Freude darüber, daß der Minister drunten vorrätig lag – ‚Ich bin der Graf A-a und suche Ihre Exzellenz schon seit einer Stunde überall.‘ Hierauf machten beide, ohne sich erst von neuem zu umarmen, da sie ohnehin einander schon an die Brust gedrückt hatten, sich verbindlich, aber mühsam miteinander auf und halfen sich gegenseitig heraus, um, so gut das Gehen gehen wollte, Arm in Arm in das ministerielle Haus zu kommen, wo sie diesen Abend sich den Wechselfall so oft wieder erzählten, als sie forterzählen konnten.“ (Zweites Nach-Kapitel aus Leben Fibels)
Ich schätze, dieses kleine sprachliche Kabinettsstück ist ganz aus dem Leben gegriffen. Jean Paul verließ des Morgens die eheliche Wohnung und ging zwecks Literaturproduktion den Berg hinan zum Gasthof Rollwenzelei, wo ihm Dachzimmer und Schwarzbier zur Verfügung standen. Abends kam er wieder herab, wohl reichlich betrunken. Auf einem dieser Wege mag er sich den Zusammenstoß mit sich selbst ausgemalt haben – A trifft B (usw. bis XYZ) –, als Geburtsszene der Erzählung. Denn der zitierte Text besteht aus lauter kleinen Selbstreferenzen, die am Ende in die eine große münden, die darin besteht, das Ereignis der Selbstreferenz immer weiter fort zu erzählen. Hier muss man nicht über die Differenz von Romantik und Jean Paul nachdenken. Natürlich würde der Humor passen, aber die betrunkene Sprache ist hier doch das eigentliche Ereignis. Das würde zu dem Theorem führen, dass Selbstreferenz und Trunkenheit ganz wesentlich zusammengehören. Ich befürchte, dass man Novalis mit solchen Wahrheiten nicht wird kommen können. Jetzt habe ich nicht über das gesprochen, worüber ich noch gerne diskutiert hätte. Ich habe es gleich selbst dargestellt. Natürlich müsste ich nun auch noch über den Siebenkäs reden oder über das Leben Fibels oder über das kleine Hausschweinchen namens Wutz. Aber ich bescheide mich mit der Hoffnung, jemand, der dies hier gelesen hat, würde sich genötigt fühlen, Jean Paul lesen zu müssen
JS: Lieber Herr Simon, meine Neugierde auf mehr nahezu rauschhafte Jean Paul Lesestunde haben Sie geweckt. Zum Abschluss noch eine gewissermaßen persönliche Frage. Im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte, besonders an deren Anfang, wird Jean Paul mit einer intimen Lektüreerfahrung verbunden. Viele Jean-Paul-Leser:innen des 19. Jahrhunderts berichten, sie hätten das Gefühl, mit dem Autor eine Art Seelenfreundschaft geschlossen zu haben, was sicherlich auch mit den Lesedispositiven dieser Zeit zusammenhängt. Wenn man mit Ihnen schreibt, hat man auch das Gefühl, dass Sie ein recht enges Verhältnis zu Jean Paul“ und seinen wilden Semiosen pflegen, ohne nun nahelegen zu wollen, dass Sie vermeinen, mit Jean Paul ein persönliches Verhältnis zu haben. Ich frage mich, wie dieser starke Resonanzraum, den Jean Pauls Texte auch meiner Erfahrung nach auch noch nach 200 Jahren erzeugen können, in Zusammenhang mit Jean Pauls avancierter Prosa steht, die vor allem auf Selbstreferenz basiert. Meine Frage gibt Ihnen hoffentlich noch die Gelegenheit, zum Abschluss unseres Gesprächs uns etwas aus dem Siebenkäs, Leben Fibels oder Wutz mitzuteilen
RS: Sie werden gemerkt haben, ich monologisiere gerne in Gegenwart Dritter. Aber ich gestehe, der Dialog mit mir selbst ist dann doch anregender. Das hat Karl Kraus geschrieben. Womit wir beim Thema wären. Die Selbstreferenz besteht vornehmlich aus Zitaten. Sie bilden die Fremdreferenz ab, so wie sie in der jeweiligen Monade zu deren Eigenbedingungen gespiegelt wird. Jean Paul hat dafür ein eindringliches Theoriebild gefunden. Als am Ende der Flegeljahre die Zwillingsbrüder, die einander näher sein müssten als sonst jemandem, im Unverständnis voneinander scheiden, deutet das Vult so: „Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte.“ Das ist eine Art von Fazit: Subjekte können einander nicht lesen, sie stoßen auf unentzifferbare Spiegelschrift. Fremdreferenz unter monadischen Bedingungen wird immer zu Selbstreferenz.
Man könnte auf die Idee kommen, nur solche Literatur für satisfaktionsfähig zu halten, die genau von diesem Paradoxon verzweifelt kommunizierender Nichtkommunikation ausgeht. Jean Paul stünde in einer solchen Reihe von literarischen Werken ziemlich weit vorne, zusammen mit Arno Schmidt oder Wilhelm Raabe. Denn es kommt ein Zweites hinzu. Jean Paul gehört zu den Gehirntieren, wie Arno Schmidt es nennt. Er ist ein Fall von Schwerstbegabung. Und diese Leute haben es nicht leicht. Ich stelle es mir so vor, dass dort, wo unsereins einen Gedanken hat, bei Hochintelligenten eine ganze Gedankenexplosion stattfindet, eine mehrdimensionale Verzweigung in viele Richtungen des semantischen Universums zugleich, mit vielfältigen Anknüpfungen, ein Garten der Pfade, die sich verzweigen (Borges). So ein Gehirntier prozediert multidimensional, in der Präsenz vieler Zitate und Anspielungen, vieler semantischer Alternativen, immer mit mehreren Reaktionen zugleich. Es entsteht quasi in jedem Moment ein inneres Theater mit sich auffaltenden Bühnen. So jemand hat viel mit sich selbst zu tun, anlässlich einer kleinen fremdreferentiellen Initiative, die ihn erreicht. Folgt man dieser Charakteristik, dann ist Selbstreferenz nicht nur ein ästhetischer Terminus, sondern auch ein existentielles Schicksal. Ich vermute, dass die Autoren der avancierten Prosa mehrheitlich von solcher Konstitution sind.
Wie sehr Selbstreferenz auch als existentielle Gestik zu verstehen ist, lässt sich am Siebenkäs ablesen. Sollte ein Schwerstbegabter heiraten? Knifflige Frage. Siebenkäs scheint jedenfalls Hoffnungen darauf gesetzt zu haben, dass sich zwei Kopfarbeiter verstehen könnten. Denn Lenette bearbeitet Köpfe ganz konkret, sie ist Perückenmacherin; Siebenkäs hingegen Satirenautor. Er hat im Kopf so viele Gedanken wie Lenette Haare unter der Hand angesichts beruflich ihr anvertrauter Köpfe. Man kann so verzweifelt selbstreferentiell sein, dass man das Bedürfnis nach Fremdreferenz auf eine Metapher gründet (Kopfarbeiter) und deswegen heiratet. Das ist nur konsequent und geht natürlich schief. Der Siebenkäs erzählt das Scheitern eines Hochbegabten am stets zu langsamen Leben und an dessen Beharrlichkeit (Be-Haar-Lichtkeit). Sein Kopftheater ist dem Leben stets voraus, wörtlich genommen bis zum Tod und zur Himmelfahrt (kryptische Bemerkung: aber man lese halt, wenn man es verstehen will).
Es gibt eine interessante Option zum Glück angesichts solcher schwieriger Intelligenzverhältnisse, wie ich mit ein paar Bemerkungen zur Idylle vom Schulmeisterlein Wutz deutlich machen möchte. Wutz, fränkisch der Name für das Hausschweinchen, ist eine tierhafte Existenzform des Menschlichen, die sich eingenistet hat in allerlei Hüllen, Nester, Bauten. Wutz ist dort zufrieden. Er sieht vom Grashalm nur die untere Hälfte und das genügt ihm, schon die Wiese wäre ihm zu weit. Jean Paul nennt das: Vollglück in der Beschränkung. Man kann die Beschränktheit mitlesen. Der Idylliker wäre eigentlich ein Fall für fürsorgliche Betreuung, wenn er nicht just eine Nische gefunden hätte, in der die Welt klein bleibt und die seltsamen Macken und Fixierungen (s. Fixlein) nicht weiter stören. Das wahrhaft Irritierende ist nun allerdings, dass Wutz dies weiß. Er ist kein Idiot, sondern einer, der immerhin so klug ist, dass er sich zum Idioten macht, dieses Machen sodann vergisst und über dem Ergebnis glücklich wird. Das ist eine Kunst und als solche wird sie von Jean Paul verhandelt. Man sieht, selbst die Idylle ist hier ein vertracktes Ding. Sie buchstabiert die ungeheure Anstrengung, die vonnöten ist, um der Disposition zur scharfen Intelligenz Glück zu verschaffen. Es handelt sich um Strategien des Selbstbetruges inklusive der Wegstreichung des Betrügers, der man selbst ist. Dazu braucht man Klugheit. – Dass ich nun an einer Stelle angekommen bin, die von der Frühromantik recht weit entfernt ist, mag man nebenbei zur Kenntnis nehmen.
JS: Herr Simon, ich bedanke mich bei Ihnen herzlich, dass Sie uns Jean Pauls Kopftheater und die frühromantische Rolle darin näher bringen, und wir dabei auch einen Einblick in Ihre Gedankenwelt erhalten haben.
Der erste Teil des Gesprächs ist unter dem folgenden Link zu finden: https://www.gestern-romantik-heute.uni-jena.de/kultur/artikel/ein-wort-zu-jean-paul-1