Romantische Sozialformen: Von Kindern und Müttern
„Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den ursp[rünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.“[1]
Einleitung
Die gegenwärtig in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachtende Polarisierung hat bereits vor langer Zeit die sozialen Nahbeziehungen erreicht. Auf der einen Seite steht die Annahme, menschliche Beziehungen seien das Produkt sozialer Konstruktionsprozesse. Das Verhalten gegenüber dem Partner, der Freundin oder dem eigenen Kind gilt als Ausdruck historischer, ökonomischer oder ideologischer Bedingungen, auf die potentiell Einfluss genommen werden kann. Die zugrundeliegenden Werte und Normen sind also grundsätzlich kontingent. Wer wen liebt und wer mit wem problemlos eine Familie gründen kann, ist demnach allein Folge gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Doch je mehr diese Position mit den letzten Modernisierungsschüben Verbreitung fand, desto stärker traten ihr das Bedürfnis nach einer Restitution starker Wertungen und das Beharren auf der Gegebenheit natürlicher Bindungen entgegen. Eine Naturalisierung von Nahbeziehungen erscheint dabei als Versuch, wenigstens diesen Lebensbereich der Relativierung und Infragestellung zu entziehen. So stehen gegenwärtig Influencer, die sich als wahre Männer zeigen, und rechte Erziehungsratgeber neben Plädoyers für Regenbogenfamilien und Bewegungen wie „Childfree“.[2] Der Angst vor der sich beschleunigenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen steht die Angst vor deren Naturalisierung gegenüber.
Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Frage nach der allgemeinen Gültigkeit oder der Gestaltbarkeit von Normen, auch derer, die das Zusammenleben prägen, wird verständlicher, wenn man den Blick zurückwendet und sieht, wie lange die Diskussionen um die Selbstverantwortung des Menschen und seine Einbindung in einen übergeordneten Zusammenhang schon anhalten und wie sehr sie grundsätzliche philosophische Fragen berühren. In einem jüngst erschienenen Gesprächsband über Kant zeichnet der israelisch-deutsche Philosoph Omri Böhm eine historische Linie, in der sich Denker gegen Positionen verwahren, die unsere Welt allein in ihrer materiellen Dimension erfassen. Er interessiert sich für Immanuel Kants im Ausgang des 18. Jahrhundert unternommenen Versuch, Normen und Ideen zu statuieren, die nicht mehr göttlich abgesichert sind, die aber durch ihre Trennung von der empirischen Welt Freiheit ermöglichen, die Freiheit, sich an ihnen zu orientieren.[3] Das ist für viele Autoren und Autorinnen der romantischen Generation ein prägender Gedanke. Wie Kant nehmen auch sie regulative Ideen an, die für das menschliche Handeln notwendig, in der Welt aber nicht wirklich aufzufinden sind. Denn das menschliche Erkenntnisvermögen, so hatte Kant in seinen Kritiken erklärt, ist nicht dafür gemacht, Zusammenhänge zu erkennen, die über die eigenen kategorialen Beschränkungen hinausgehen und Einblicke in das Ganze der Natur oder des Göttlichen zu erlangen. In Abwehr einer als unzulänglich verstandenen empiristischen Aufklärung folgen die Romantiker Kant darin, universelle Ansprüche und höhere Ideen zu verteidigen und zugleich ein scharfes Bewusstsein für die Begrenzung der eigenen Einsichtsfähigkeit zu entwickeln. Friedrich Schlegel schildert die Konsequenzen:
„Das Denken hat die Eigenheit, daß es nächst sich selbst am liebsten über das denkt, worüber es ohne Ende denken kann. Darum ist das Leben des gebildeten und sinnigen Menschen ein stetes Bilden und Sinnen über das schöne Rätsel seiner Bestimmung. Er bestimmt sie immer neu, denn eben das ist seine ganze Bestimmung, bestimmt zu werden und zu bestimmen. Nur in seinem Suchen selbst findet der Geist des Menschen das Geheimnis welches er sucht.“[4]
Friedrich Schlegel ist nicht der einzige Romantiker, der einen Ausweg aus dem Verlangen, sich an einer höheren Bestimmung des Menschen zu orientieren und dem Unvermögen, Einsicht in diese zu erlangen, im Prozess des ewigen Suchens sieht. Nur über den Gedanken der Bewegung in die Richtung eines unerreichbaren Ziels lassen sich die als notwendig angenommene Ausrichtung auf Ideen und deren immer unzureichende menschliche Bestimmung miteinander verbinden.[5] Versteht man Antinomien als „Widersprüche, die man scheinbar neben einander bestehen lassen muss, die aber doch eng zusammengehören, aber nicht indem sie sich auflösen lassen, sondern indem man sich über ihre Unauflöslichkeit klar wird,“ erscheint romantisches Denken als zutiefst antinomisch.[6]
Der Prozess des Romantisierens wäre demnach eine Reaktion auf die Antinomie, nach einem Unbedingten zu streben, zugleich nicht aus der eigenen Befangenheit herauszukommen, in der subjektiv gebundenen Perspektive und der eigenen Setzungskraft aber auch eine ganz neue Freiheit zu erfahren. Denn – so beschreibt es Friedrich Schlegel – zum Menschen gehöre es, bestimmt zu werden und zu bestimmen. Die oben beschriebene Operation des „Romantisierens“ wäre dann der vom modernen Menschen unternommene Versuch, seine Lebenswelt an eine höhere Ebene zu binden, im Wissen darum, dass er selbst es ist, der diesen Versuch unternimmt, im Wissen also, dass ein Romantisiertes immer einen prekären Status hat.[7] Das Verlangen nach Sinn bleibt, die Gewissheit, ihn zu erfahren schwindet, an ihre Stelle tritt die eigene Setzung, die Suche und die Sehnsucht nach dem, was sich entzieht.[8]
Dieser Aufsatz möchte fragen, ob der Vorgang des Romantisierens in der Gegenwart unseres sozialen Miteinanders eine Rolle spielt. Die These ist, dass er auch in unserer Zeit eine erhebliche Bedeutung hat. Zur Prüfung dieser These soll auf die Felder der romantischen Kindheitsidealisierung (und des damit einhergehenden Mutterbildes) und später der romantische Liebe (und des Verständnisses von Freundschaft) ein genauerer Blick geworfen werden. Zunächst gehen die Betrachtungen dabei auf die historische Romantik zurück. Anschließend wird nach dem Fortwirken modellbildender Gedanken- und Darstellungskomplexe gefragt. Bezogen auf die Gegenwart heißt dies, zu untersuchen, ob wir in sozialen Nahbeziehungen heute – und nicht nur in der historischen Romantik – ein ‚relatives Absolutes‘ als Ausweg aus der geschildeten Antinomie finden. Erhalten wir uns den Glauben an die Besonderheit des Kindes – im Wissen darum, dass ihn nicht alle teilen? Gehen wir von einem Kern an Unverfügbarkeit und Nicht-in-Frage-Stellung in der Liebe aus – im Wissen darum, dass wir selbst uns für diese Annahme entscheiden und sie Alternativen kennt? Die Operation des ‚Romantisierens‘ kann dazu dienen, Sinn zu setzten und ihn zugleich einzuhegen. Gelingt diese Balance, geht sie über die genannten schroffen Gegensätze hinaus. Es scheint noch immer das Bedürfnis zu geben, individuelle Sozialformen mit einem höheren Prinzip zu vermitteln, indem wir das Kind oder den Partner ansehen, als ob die Liebe zu ihnen Teil eines umfassenden Sinns wäre.
Kinder in der historischen Romantik
Die These von der „Entdeckung der Kindheit“ in der Frühen Neuzeit ist längst in Frage gestellt, dennoch gilt Philippe Aríès als der Erste, der das Konzept ‚Kindheit‘ historisierte und damit die Kindheitsgeschichte begründete.[9] Zu den treibenden sozialgeschichtlichen Veränderungen gehören nach heutiger Einschätzung die zunehmende Trennung der Sphären des Privaten und des Öffentlichen: Familienbeziehungen wurden mehr und mehr im privaten Bereich angesiedelt und dieser Bereich konnte durch seine emotionale Grundierung zur Gegenwelt der öffentlichen Sphäre werden. Allein hier konnte man sich finden und sich den zunehmend differenzierten Erwartungen an den modernen Menschen entziehen.[10] War die Lebensperspektive von Kindern bis zur Aufklärung selbstverständlich durch Stand, ökonomische Situation und Konfession bestimmt, rückte das Kind nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Philosophen, von Pädagogen und Schriftstellern, die sich in neuer Weise über die Kindheit verständigten.[11] Martina Winkler schildert in einer aktuellen „Kindheitsgeschichte“ die sich wandelnden Lebensbedingungen und Reflexionen über die Kindheit.[12] Doris Bühler-Niederberger fasst diese Veränderungen abstrakter und ordnet die seit dem Mittelalter wachsende Separierung und Institutionalisierung von Kindheit in den allgemeinen Prozess gesellschaftlicher Differenzierung und Distinktion.[13]
Im Rahmen dieser Prozesse entwickelten sich diskursprägende Kindheitsvorstellungen. Die Aufklärung sah den Menschen zunehmend als eigenständig denkendes und handelndes Wesen. Also sann die Pädagogik auf Wege, Kinder zum Vernunftgebrauch zu erziehen. Die Erziehung konnte die Vervollkommnung des einzelnen Menschen unterstützen - und damit auch die der Gesellschaft und der Welt. Kinder galten lange Zeit als unvollständige und im Kern unfertige Menschen, bei denen viele Kräfte noch nicht ausgebildet vorlagen: die moralischen ebenso wie die körperlichen und intellektuellen Kräfte. Für frühe Aufklärer wie John Locke war das Kind offen und bestimmbar – sein Geist nach damaligen Vorstellungen eine ‚tabula rasa‘. Dabei formulierte Locke in seinem Erziehungsbuch Some Thoughts Concerning Education (1693) eine vergleichsweise freundliche Vorstellungen vom Kind, vergleicht man seine Annahmen mit puritanischen Kindheitsvorstellungen, die in Augustinischer Tradition davon ausgingen, dass das triebhafte Kind dem Bösen zuneige und durch die Erbsünde belastet sei. Bei Locke hatte das zu erziehende Kind alle Möglichkeiten. Sein Wert lag allerdings eher im Werden, in der Zukunft als erwachsener, seine Affekte beherrschender, vernünftiger und sozial brauchbarer Mensch.
Die Vorstellung, dass der erwachsene Mensch der wertvollere sei, änderte sich mit den Ideen, die Jean-Jacques Rousseau in seiner Schrift Émile ou De l’éducation (1762) vorlegte. Aus einem unfertigen Menschen wurde das Kind nun zu einem Wesen mit ganz eigener Vollkommenheit. Rousseaus Erziehungskonzept entsprang seiner Kulturkritik: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt ist gut, alles entartet unter den Händen der Menschen,“ lautet sein berühmtes Verdikt.[14] Allein im Naturzustand sei der Mensch zufrieden, der zivilisatorische Prozess verderbe ihn. Rousseau plädierte deshalb für eine „negative Erziehung“, die den kindlichen Naturzustand möglichst lange erhielt und die Bekanntschaft mit der sittlichen und sozialen Welt hinausschob. Die selbstgenügsame Kindheit bekam damit nicht nur ein eigenes Recht, sie wurde zu einer besonders wertvollen Lebensphase. Die begleitenden, durchaus machtvollen Erzieher sollten ihre Aufmerksamkeit auf das Besondere des Kindseins richten, auf die kindliche Entdeckerfreude, auf die sinnliche und vorrationale Erfahrungsweise. Keinesfalls sollte Kindheit einer ungewissen Zukunft und einer vermeintlichen Perfektibilität geopfert werden: "Ihr seid beunruhigt, wenn es [das Kind] seine ersten Jahre mit Nichtstun verbringt. Aber was denkt ihr denn! Ist es etwa nichts, glücklich zu sein. Ist es nichts, den ganzen Tag herumzuspringen, zu spielen, zu rennen?"[15]
Die Kindheitsgeschichte von Martina Winkler bietet nicht nur ein diachrones Bild der historischen Entwicklung, sondern auch ein systematisches Kapitel, indem sie Kindheitsmuster aus Aufklärung und Romantik einander gegenüberstellt. Sie führt damit eine Forschungstradition fort, die von dem Literaturwissenschaftler Hans-Heino Ewers und der Bildungshistorikerin Meike Sophia Baader maßgeblich geprägt wurde.[16] Dieser Tradition und der von Winkler vertretenen Ansicht, es handele sich um Denkmodelle, die den Kindheitsdiskurs bis in die Gegenwart prägten, möchte der vorliegende Aufsatz neue Aufmerksamkeit verschaffen. Denn vor dem Hintergrund aufklärerischer Positionen lässt sich das romantische Kindheitsbild besonders gut skizzieren. Ist es deutlich genug gezeichnet, fallen die Fortschreibungen und Variationen, die bis in unsere Zeit reichen, ins Auge.
Aufklärung und Romantik binden an die Kinder die Erwartung einer besseren Welt. Während der aufklärerische Perfektibilitätsgedanke eine vernunftgesteuerte – später auch die Sinnlichkeit integrierende – lineare Aufwärtsentwicklung des Menschen annimmt, verbinden viele Romantiker und Romantikerinnen mit der Kindheit einen Dreischritt.[17] Wie bei Rousseau kennt der kindliche Mensch auch bei ihnen ein ausgeglichenes, in sich ruhendes Glück, eine Harmonie mit sich selbst, mit der Natur und mit dem Göttlichen: "Wo Kinder sind, da ist ein Goldenes Zeitalter," heißt es bei Novalis.[18] In der romantischen Version ist dieses Goldene Zeitalter etwas Vergangenes, dem man sich rückblickend zuwenden kann, zugleich aber auch etwas Zukünftiges, dem es sich wieder anzunähern gilt. Die Gegenwart hingegen ist die eines Mangels – dies gilt individuell wie für den gattungsgeschichtlich erwachsen gewordenen Menschen.[19] Denn im Verlauf der Entwicklung scheren Sinnlichkeit und Vernunft auseinander, werden die Differenzen und Brüche der Welt sichtbar: So folgen verschiedene Bereiche der Wirklichkeit verschiedenen Gesetzen, man fühlt sich in widerstreitende Anteile gespalten und zwischen verschiedenen Ansprüchen aufgerieben, Ansichten kollidieren und lassen sich nicht mehr zusammenfügen.[20] Der kindliche Geist wird in der Romantik als einer entworfen, der all diese Spannungen und Scheidungen noch nicht kennt und so kann das Kind nicht nur zum Gegenstand einer sehnsuchtsvollen Rückwendung werden, sondern auch zum Ziel einer Vorwärtsbewegung, die sich auf eine neue, eine höhere Kindheit richten soll. Diese Konzeption lässt sich als Teil einer auf dem Boden moderner Partikularisierung entstehenden individuellen und gesellschaftlichen Sehnsucht nach Re-Integration und Synthetisierung verstehen.
Dieses komplexe Kindheitsbild kann man in einem romantischen Text nachlesen: Friedrich Schlegels Roman Lucinde (1799), die fragmentarischen Bekenntnisses eines „Ungeschickten“, entfalten nicht nur die berühmten Vorstellungen von romantischer Liebe, sondern zeichnen damit eng verbunden auch ein romantisches Kind – am Beispiel der „Charakterisierung der kleinen Wilhelmine“: Dieses Kind „ist die geistreichste Person ihrer Zeit oder ihres Alters. Und das ist nicht wenig gesagt: denn wie selten ist harmonische Ausbildung unter zweijährigen Menschen? Der stärkste unter vielen starken Beweisen für ihre innere Vollendung ist ihre heitere Selbstzufriedenheit.“[21] Schlegel greift das Rousseausche Ideal der Selbstgenügsamkeit auf und spielt mit der „inneren Vollendung“ und der „harmonischen Ausbildung“ auf die Vorstellung vom Kind als anthropologisch ganzem und natürlichem Menschen an, der noch keine Konflikte zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, keine widerstreitenden Identitätsanteile und Wünsche, keine innere Zerrissenheit kennt.[22]
„Wenn sie gegessen hat, pflegt sie, beide Ärmchen auf dem Tisch ausgebreitet ihren kleinen Kopf mit närrischem Ernst darauf zu stützen, macht die Augen groß und wirft schlaue Blicke im Kreise der ganzen Familie umher. Dann richtet sie sich auf mit dem lebhaftesten Ausdrucke von Ironie und lächelt über ihre eigne Schlauheit und unsre Inferiorität.“[23] Die Verhältnisse sind hier gegenüber der Aufklärung verkehrt: Nicht mehr die Älteren der Familie sind vernunftgeleitete Erzieher, nein, das Kind ist vollkommener als die Erwachsenen. Wilhelmine muss nicht erzogen werden, sie muss sich nur entfalten, denn sie ist allen anderen durch Lebhaftigkeit, Schlauheit und Ironie überlegen.[24]
„Zur Poesie glaube ich, hat sie weit mehr Neigung als zur Philosophie […]. Die harten Übelklänge unsrer nordischen Muttersprache verschmelzen auf ihrer Zunge in den weichen und süßen Wohllaut der italiänischen und indischen Mundart. Reime liebt sie besonders, wie alles Schöne; sie kann oft gar nicht müde werden, alle ihre Lieblingsbilder, gleichsam einer klassischen Auswahl ihrer kleinen Genüsse, sich selbst unaufhörlich nacheinander zu sagen und zu singen. Die Blüten aller Dinge jeglicher Art flicht Poesie in einen leichten Kranz, und so nennt und reimt auch Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Begebenheiten, Personen, Spielwerke, und Speisen, alles durcheinander in romantischer Verwirrung, so viel Worte so viel Bilder und das ohne alle Nebenbestimmungen und künstlichen Übergänge, die am Ende doch nur dem Verstande frommen und jeden kühneren Schwung der Fantasie hemmen. Für die ihrige ist alles in der Natur belebt und beseelt.“[25]
Für Friedrich Schlegel ist die Sprache Wilhelmines eine poetische, die sich strengen Regeln entzieht, die abstrakte Begriffe übersteigt und sich durch Bilder sowie durch Rhythmus und Klang auszeichnet. Sie ist nicht immer verständlich, die Verwirrung folgt aber dem Impuls, das Verschiedene, das Hohe und Niedere zusammenzubringen – und damit nicht ganz zufällig dem ästhetischen Programm der Romantik, der progressiven Universalpoesie.[26] Der kindlich-wunderbare Blick und die fantasievolle Sprache sind dann auch dem Genius und der Schöpferkraft des Dichters verwandt. Durch ihre reiche Imagination gelingt es Wilhelmine, die Fülle der Natur und des Lebens zu erfassen, die höheren Ideen hinter den Phänomenen zu erahnen. So scheint ihr die Natur beseelt und damit versteht sie die Schöpfung im romantischen Sinne besser als die Erwachsenen, für die die Natur bereits entzaubert ist. Novalis spricht deshalb von der „Überlegenheit des Kindes in den allerhöchsten Dingen“.[27] Indem Kinder nicht nur zu Bewohnern eines verlorenen Paradieses, sondern auch zu Vorboten eines wiederzuerlangenden besseren Zustandes werden, in dem Mensch, Natur und übersinnliche Welt nicht mehr voneinander geschieden sind, klingen theologische Traditionen nach: die christliche Vorstellung vom göttlichen Kind, das die Welt erlösen wird.[28]
Das romantisch-goldene Zeitalter wird zumeist als Idealzustand konzipiert, der sich dem Erreichen entzieht. Daher bietet auch der Text Friedrich Schlegels Hinweise auf die Idealität von Wilhelmines Charakter. Die anthropologische Harmonie, das Eingebettetsein in eine göttlich durchwobene Welt, der wunderbare und mythologische Zustand scheinen keinesfalls eine lebensweltliche Selbstverständlichkeit, sondern zu einem guten Teil konstruiert: „Aber freilich ist Geist, Witz und Originalität bei Kindern gerade so selten wie bei Erwachsenen. Doch all dies und so vieles andre gehört nicht hieher und würde mich über die Grenzen meines Zweckes führen! Denn diese Charakteristik soll ja nichts darstellen als ein Ideal, welches ich mir stets vor Augen halten will“.[29]
Das natürlich-poetische Kind wird vom Erzähler selbst als Idealisierung ausgewiesen und damit wird der Vorgang des ‚Romantisierens‘ sichtbar. Der erwachsene Erzähler wendet sich dem Kind zu, indem er dessen Überlegenheit beschwört und diese Überlegenheit zugleich als selbstgemachte Konstruktion kennzeichnet. Zum Ausdruck kommt so das Verlangen, sich an einem besseren Zustand und einer höheren Idee auszurichten und das Wissen um deren Unerreichbarkeit und die unüberbrückbare Distanz zum ersehnten ‚Goldenen Zeitalter‘.
Neben Schlegels Reflexionen über die Kindheit lassen sich weitere Texte stellen: E.T.A. Hoffmann etwa entwirft in seinen Kinder-Mährchen (1817) literarische Welten, in denen die romantische Kindheit eine faszinierende Rolle spielt, in der sie aber zugleich distanziert wird. Der in dieser Hinsicht wichtigste Text, Das fremde Kind, erschien leicht überarbeitet auch in Die Serapions-Brüder (1819) und wurde dort vom Erzähler als Märchen für kleine und große Kinder ausgewiesen.[30] Das titelgebende fremde und feenhafte Kind erscheint in dem Moment der Handlung, an dem die kindlichen Protagonisten Christlieb und Felix ihren ursprünglich Kindheitsort zu verlieren drohen. Haben sie doch in der Folge eines Besuchs ihrer städtischen Verwandten, die verschwenderisch mit ihren simpel-aufklärerischen Erziehungsansichten und mit jeder Menge mechanisch-leblosen Spielzeugs über sie hereinbrechen, mit einer Erschütterung ihrer natürlichen Idylle zu kämpfen.
Angesichts der Konfrontation mit den satirisch überzeichneten städtischen Bildungsidealen (formelhaftes Schulwissen und Gewandtheit in der Welt) bröckelt die ländliche Einheit der Kinder mit ihrer Familie, mit dem animistisch belebten Waldhaus, in dem sie leben, mit ihrer natürlichen Umgebung. Im Moment des drohenden (Selbst-)Verlustes entwickeln sie eine unstillbare Sehnsucht nach dem engelsgleichen Kind, das ihnen im Wald erscheint und dieses natürliche Refugium, die Quellen, die Pflanzen und Tiere wieder zum Sprechen bringt. Das Zauberkind bleibt dabei ein fremdes, sich entziehendes Idealwesen aus einer unerreichbaren Sphäre. Es scheint gebunden an die Imagination der Kinder Felix und Christlieb und kann mit diesen nur für eine Weile interagieren. Sein innerfiktionaler Status ist im komplexen Märchen, das wie die phantastische Literatur eine Verschränkung verschiedener Wirklichkeitssysteme kennt, höchst ambivalent: Es bleibt für die Leser und Leserinnen offen, ob das fremde Kind der Einbildung von Felix und Christlieb entspringt oder innerfiktional real ist.
Am Ende der Erzählung äußert sich der sterbende Vater dergestalt, dass auch er dem fremden Kind einst begegnete und er seinen eigenen Kindern wünscht, sich den Glauben an das Wunderbare, die Macht der Phantasie und eine lebendige Natur lebenslang zu bewahren. Innerfiktional führt der Weg der Kinder in die Adoleszenz. Das Märchen aber tritt an, das schwindende Ideal poetisch zu erhalten und zugleich in seiner unerreichbaren Idealität zu reflektieren. Damit macht auch diese Erzählung den Prozess des Romantisierens transparent: Der Handlungsverlauf und der Fiktionsstatus erlauben es, das dargestellte Kindheitsideal als regulative Idee zu lesen, die sich nach dem Verlust der ursprünglichen Naivität nicht mehr erreichen, aber immer wieder neu entwerfen und imaginieren lässt.
Die romantischen Kinder setzen ihren Weg fort
Man muss keine Kindheitsgeschichte lesen, um den Eindruck zu gewinnen, dass der Gegensatz von aufgeklärtem und romantischem Kindheitsverständnis bis in unserer Gegenwart wirkt.[31] Allgemeine Bildungsdebatten operieren mit konkurrierenden Vorstellungen von einem zu Kompetenzen zu erziehenden Kind und frei und ungebunden spielenden, sich selbst genügenden Kindern. Der Gedanke der Nutzung der kindlichen Lebensphase zur Förderung von im späteren Leben nützlichen Fähigkeiten steht der Einschätzung der Kindheit als autonomer Lebensphase gegenüber, einer Lebensphase, die ihren eigenen Gesetzen folgt und nicht an den Maßstäben der Erwachsenenwelt gemessen werden sollte. Implizit gehören zu dieser zumeist das Glück der Selbstzufriedenheit, die Naturnähe, die lebendige Phantasie und eine anthropologische Vollkommenheit. Auch können Kinder Züge des Heiligen tragen. Die verschiedenen, zum Teil konträren Annahmen schlagen sich in Konzeptionen der vorschulischen Erziehung nieder.[32] Man muss sich nur die unterschiedlichen Kindergärten ansehen: von der französisch inspirierten Vorschule und bilingualen Einrichtungen bis hin zu Montessori-, Waldorf- und Waldkindergärten.
Romantisch inspirierte Erziehungskonzepte
Das Konzept des Waldkindergartens beispielsweise sieht einen fast ausschließlichen Aufenthalt der Kinder in der Natur vor, deren Rhythmen und Lebensgemeinschaft erfahren werden sollen, so dass schon das junge Kind sich in einem größeren Zusammenhang verorten kann. Zugleich dient die Wahrnehmung der natürlichen Umgebung des Waldes der Anregung aller Sinne und des Intellekts und folgt dem Ansinnen, das Kind in all seinen Anteilen zu prägen und es zu einem harmonischen Individuum heranwachsen zu lassen. Folgerichtig werden in den Wald auch keine mechanischen Spielzeuge mitgebracht – höchstens Spaten und Schnitzmesser – vielmehr soll das Spiel von den Naturmaterialien angeregt werden, die sich im Laufe des Waldaufenthalts finden: Stöcke, umgefallene Bäume, Furchen mit Schlamm. Vom Umgang mit den Naturelementen verspricht man sich eine Anregung der kindlichen Phantasie. Da Gegenstände im kindlichen Spiel oftmals als ein anderes genutzt werden, schulen sie die Einbildungskraft und ermöglichen die Ausbildung eines gedanklichen Raums der unbegrenzten Möglichkeiten.[33] Die Erzieher verstehen sich in der Regel als Begleiter und leise Anreger, die sich auf Augenhöhe mit den Kindern befinden. Überlegen sind sie ihnen nicht. Manchmal zünden sie zu Beginn des Tages im Kreis der Kinder eine Kerze zur Waldandacht an. Die Vielzahl der einem romantischen Kindheitsbild entsprechenden Motive ist deutlich und kommt in dem Wahlspruch „Die Wände so weit wie die ganze Welt“ zum Ausdruck.[34]
Der Waldkindergarten stammt aus Schweden und wanderte in den 1960er Jahren nach Deutschland. Die Übertragung romantischer Kindheitsideen in die pädagogische Praxis fand allerdings schon viel früher statt. Bereits 1840 stiftete Friedrich Wilhelm Fröbel im Rathaus von Blankenburg den ersten deutschen Kindergarten und bereitete dies gedanklich in seiner Schrift Die Menschenerziehung (1826) vor.[35] Für Fröbel, einen Schüler des romantischen Theologen Friedrich Schleiermacher, galt es als schönste Aufgabe der Erziehung, den Menschen zur Erkenntnis seiner selbst zu führen, und das hieß für ihn zur Erkenntnis seiner Einheit mit der Natur und seiner Nähe zu Gott. Im Kindergarten sollten die konkreten Bedingungen dafür geschaffen werden, den Keim des Göttlichen im Kind zu pflegen. Das von Fröbel entworfene Spielmaterial, seine Anleitungen zu Bewegung und Gartenpflege dienten nicht nur dazu, die Kinder in Tätigkeit zu versetzen, sondern sie sollten in jeder ihrer Tätigkeiten auch höhere Gesetzmäßigkeiten erahnen. Das in der Romantik entrückte Paradies sollte sich im Kindergarten verwirklichen. Wie bei Fröbel ist auch in Ernst Moritz Arndts Fragmente[n] über Menschenbildung die metaphysisch überhöhte Kindheit weniger Fiktion und Poesie, sondern erhoffte Lebenspraxis. Das romantische Bewusstsein, dass moderne Subjekte durch Romantisierung an der Verzauberung ihrer Umwelt aktiv teilhaben, tritt zurück.[36]
Die Vorstellung von der „Überlegenheit des Kindes in allerhöchsten Dingen“ hatte einen weitreichenden Einfluss auf die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelnde Reformpädagogik. Gemeinsam ist vielen der unter diesem Begriff zusammengeführten pädagogischen Strömungen, dass sie Kindheit einerseits als göttlich und andererseits als durch gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen bedroht ansehen.[37] Meike Sophia Baader hat die Transformationen des christlich Religiösen in die synkretistische Religiosität der Reformpädagogik in einer Studie dargelegt und die Schwedin Ellen Key mit ihrem vielzitierten Werk Das Jahrhundert des Kindes (1900) als eine der wirkungsmächtigsten Figuren ausgemacht. Key geht es um die harmonische Entwicklung des kindlichen Charakters, die sprichwörtlich gewordene Ausbildung der Persönlichkeit „vom Kinde“ aus. Es geht ihr um das freie Spiel und dessen Wirkung auf ein sich vollständig entfaltendes Individuum. Das Kind soll aber auch einen neuen, einen besseren und damit höheren Menschen verbürgen. Dass diese Idee durchaus Gefahr läuft, sich mit sozialdarwinistischen und eugenischen Argumentationen zu verbinden, ist in der historischen Bildungsforschung schon seit längerem in den Blick geraten.[38] Bei Ellen Key klingt lebensphilosophisches Pathos an, wenn sie das Erlösungspotential des Kindes beschwört:
„Bevor nicht Vater und Mutter ihre Stirn vor der Hoheit des Kindes beugen; bevor sie nicht einsehen, dass das Wort Kind nur ein Ausdruck für den Begriff Majestät ist, bevor sie nicht fühlen, dass es die Zukunft ist, die in Gestalt des Kindes in ihren Armen schlummert, die Geschichte, die zu ihren Füßen spielt, werden sie auch nicht begreifen, dass sie ebenso wenig die Macht oder das Recht haben, diesem neuen Wesen Gesetze vorzuschreiben, wie sie die Macht oder das Recht haben, sie den Bahnen der Sterne aufzuerlegen.“[39]
In der Überhöhung des Kindes zu einer „Hoheit“ und „Majestät“ spiegelt sich die metaphysische Sehnsucht. Zugleich artikuliert sich eine geschichtsphilosophisch grundierte Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Gefährlich wird diese Hoffnung, wenn die dem Romantisieren eingeschriebene immerwährende Distanz zum erwünschten Einheitszustand zugunsten eines Welterlösungsprogramms zurücktritt, wenn sich ein aggressiver Antimodernismus äußert, wenn sie Regressionen begünstigt oder Lehrer als Seelsorger oder Führer auftreten lässt.
In der Gegenwart gibt es überraschende Anschlüsse an die „Kultur- und Modernekritik“ der Reformpädagogik. In einem 2020 erschienenen Erziehungsratgeber schließt sich die Rechtsintellektuelle Caroline Sommerfeld explizit an reformpädagogische Traditionen an – von Maria Montessori über Rudolf Steiner bis zu Peter Petersen.[40] Darüber werden auch romantische Denkmuster vermittelt. Es sind nicht die Vorstellungen vom sich organisch entfaltenden, vom natürlich-guten Kind, die in „Wir erziehen“ fortgeschrieben werden – ganz im Gegenteil, von diesen Vorstellungen setzt sich Sommerfeld vehement ab. Aber sie erklärt das Eingebundensein des Kindes in eine „Vertikalspannung“, ein „Hingezogensein zu Gott“ zur Voraussetzung aller Erziehung. Sommerfeld sieht sich in einer philosophischen Tradition, die der aufklärerischen Selbstermächtigung entgegensteht und das menschliche Leben als Ausdruck höherer Ideen begreift.[41] Diese Annahme wäre weniger problematisch, wenn sie einen romantisch-beweglichen Charakter behielte, aber Sommerfeld plädiert für eine unverrückbare vertikale und horizontale Absicherung von Kindheit und Persönlichkeitsbildung. Der in ihrem Ratgeber beschworene „konservativ-revolutionäre Geist“ soll den „Glauben“ daher mit den Elementen „Führung“, „Autorität“, „Askese“ und „Volk“ verbinden.[42]
Damit ein Kind einen Zustand erfährt, den Sommerfeld „Beheimatetsein“ nennt, braucht es ihrer Ansicht nach nicht nur den Glauben, sondern auch die „Verwurzelung im eigenen Volk“. Diese Heimat bietet für Sommerfeld dann die „Grundlage von Selbstbewusstsein und Duldsamkeit“.[43] Denn ein duldsames Kind füge sich freiwillig der rechtmäßig gegebenen Ordnung. Diese Annahme lässt strukturell wenig Spielraum für individuelle Abweichungen in der Selbstentfaltung eines Kindes und auch nicht für die Frage, mit welchen Erkenntnismitteln sich eigentlich zuverlässig feststellen lässt, welche die rechtmäßig gegebene soziale Ordnung sei.[44] Die Absicherung scheinbar unbezweifelbarer Normen erfolgt bei Sommerfeld durch eine metaphysische „Vertikalspannung“, aber paradoxerweise auch durch die Natur – vor allem diejenige des als organisch verstandenen „Volkskörpers“.[45] Explizit schließt Sommerfeld sich biologistischem Denken an, wenn sie für einen „Erhalt der Völker und der menschlichen Rassen in der Tradition des Artenschutzes“ plädiert.[46]
Das Verständnis vom Kind, von Kindheit und Erziehung wird zum ideologischen Kampfplatz. Rechte Autorinnen wie Caroline Sommerfeld sehen sich unversöhnlich einer liberalen Verfallsform der Gesellschaft gegenüber. Die selbstverständlich mit Gründen kritisierbare Gegenwart wird dabei um ihre Agonalität und Pluralität verkürzt und erscheint allein als geist- und ideenloser Materialismus, von Gleichheitspathos getrieben und von Hyperindividualismus zerstört. Der fehlgeleitete Glauben an die Selbstentfaltung des Individuums verbinde sich – so die Kritik – mit der großen Erzählung von Weltbürgertum, Menschenrechten, Demokratie und deutscher Unheilsgeschichte.[47] An vielen Stellen des Ratgebers „Wir erziehen“ teilt sich der Eindruck mit, die Autorin kämpfte gegen eine übermächtige Moderne. Je stärker die Individualisierung voranschreitet, je weiter sich Werte und Normen auffächern, je mehr die Eindeutigkeit schwindet, desto vehementer scheint das Aufbegehren und auch die dezisionistische Setzung von nicht verhandelbaren Größen. Erstaunlicherweise artikuliert sich im Buch von Caroline Sommerfeld jenseits des beschworenen Fundaments von „Volk“ und „Führung“ eine Ahnung, dass der modernen Skepsis nicht beizukommen ist. Sie spricht von früher Nietzsche-Lektüre und dem von Nietzsche vermittelten Wahrheitszweifeln.[48] So vermittelt das Buch den Eindruck, unerbittlich Festschreibungen vorzunehmen, diese argumentativ aber nicht mehr halten zu können. Es zeigt sich der Unwille, gegensätzliche Aspekte als aufeinander bezogen zu verstehen. Das tilgt den aus der Romantik fortwirkenden Impuls, eine Balance zu suchen zwischen einer Orientierung an höheren Ideen und dem Wissen um deren Brechung durch die eingeschränkte Perspektive der Individuen. Frühromantiker wie Friedrich Schlegel und Novalis gaben das Nachdenken über letzte Gründe nicht auf. Aber sie waren sich der absoluten Prinzipien so ungewiss, dass sie diese nicht festschrieben.
Was an praktischen Erziehungsempfehlungen von Sommerfeld ausgesprochen wird, ist in einer gegenwärtigen pluralen Gesellschaft möglich: partieller Verzicht und Impulskontrolle statt eines unendlichen Konsums, Vorlesen statt Dauerhandy, elterliche Zuwendung statt Abspeisung am Tisch und anderswo. Warum sollte ein lebendiger Kontakt zu mehreren Generationen nicht möglich sein? Auch die Bewegung in der Natur, das Bauen von Baumhäusern und die Erfahrung von Schönheit können noch immer begünstigt werden. Die Einbindungen in die Gemeinschaft von Musik und Sport oder die Förderung von Anstrengungsbereitschaft – weshalb sollten diese Optionen zwingend mit völkischem Denken, mit dem Begriff von „Führung“ und Rassevorstellungen, mit der Abwehr von historischer Schuld verbunden werden? Waldkindergärten zeigen, dass es auch anders geht: Hier ist der Hinweis entscheidend, dass diese Einrichtungen zumeist um 12.00 Uhr schließen: Danach ist das Kind Teil einer heterogenen und uneinheitlichen Welt. Romantische Bedürfnisse werden gerahmt. Der Wald als Schutz- und Bildungsort eines ‚ganzen‘, kreativen und widerstandsfähigen Kindes wird zum Refugium für einige Stunden und bietet keine geschlossene Weltsicht – auch die religiös grundierte Erlösungshoffnung und die politische Modernekritik sind damit abgeschwächt.
[1] Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen. Logologische Fragmente II, in: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, begründet und hg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans Joachim Mähl/Gerhard Schulz, Stuttgart 21965, S. 531-564, hier S. 334.
[2] Siehe die Website We are childfree: wearechildfree.com
[3] Omri Böhm/Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant, Berlin 2024.
[4] Friedrich Schlegel: Lucinde, in: Dichtungen: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett/ Hans Eichner, Abt. 1: Kritische Neuausgabe, Bd. 5, hg. v. Hans Eichner, Paderborn u.a. 1962, S. 72.
[5] „Filosofiren muß eine eigne Art von Denken seyn. Was thu ich, indem ich filosofire? ich denke über einen Grund nach. Dem Filosofiren liegt also ein Streben nach dem Denken eines Grundes zum Grunde. Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne – sondern innre Beschaffenheit – Zusammenhang mit dem Ganzen. Alles Filosofiren muß also bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte – so wäre der Trieb zu Filosophiren eine unendliche Thätigkeit – und darum ohne Ende, weil ein ewiges Bedürfnis nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ gestillt werden könnte – und darum nie aufhören würde.“ Novalis: Philosophische Studien der Jahre 1795/96. Fichte-Studien, in: Novalis Schriften, Bd. 2, S. 104-298, hier S. 269f.
[6] Omri Böhm/Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel, S. 21 und S. 112. Böhm spricht von einer Denkbewegung, die Kant erfunden hat: die Philosophie des als-ob. Als für Kant typisch sieht er die folgende Denkbewegung: „Wir wissen nicht, ob Gott existiert, aber wir müssen handeln, als ob es ihn gäbe.“
[7] Novalis hatte deshalb im ersten Blüthenstaub-Fragment auch davon gesprochen: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“. Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 413.
[8] Dirk von Petersdorff: Romantik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2020, S. 35 ff.
[9] Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1960. Neue Studien ergeben ein vielschichtigeres Bild früherer historischer Epochen hinsichtlich der Wahrnehmung und des Umgangs mit Kindern als Ariès es zeichnet. Heute gilt als selbstverständlich, dass die Art und Weise, wie wir Kinder beschreiben, immer etwas mit den „zeitgenössischen ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimension der Modernisierungsprozesse sowie den Grundzügen und Themen der jeweiligen Epoche zu tun“ hat. Vgl. Meike Sophia Baader/Florian Eßer/Wolfgang Schröer (Hrsg.) Kindheiten in der Moderne Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt am Main, 2014, S. 16.
[10] Sandra Busch: Mütter der Romantik – Romantik der Mütter. Über Kontinuitäten romantischer Mutterbilder im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2022, S. 50.
[11] Kindheitsgeschichte wird seit den 1960er Jahren in einer hellen und einer dunklen Variante geschrieben: Einerseits entwickelt sich die These, es ergebe sich eine stete Verbesserung durch das Zurückdrängen von Gewalt und Vernachlässigung zugusten eines liebevolleren Umgangs mit Kindern (aus psychoanalytischer Sicht: Lloyd DeMause: Die Evolution der Kindheit, Frankfurt am Main 1980). Dagegen stehen Positionen, die eine Fortschrittsgeschichte bezweifeln, oder solche, die ein strikt relativistische Betrachtung anmahnen. Ariès selbst sieht einen Verlust an selbstverständlicher Integration der Kinder in die erwachsenen Lebensvollzüge durch Institutionalisierung und Verschulung der Kindheit. Diese Einsperrung setze sich bis in die Gegenwart fort.
[12] Martina Winkler: Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017. Veränderungen ergeben sich etwa durch den Schutz der Familien vor staatlichen Eingriffen, durch Arbeitsverbote, die Verschulung von Kindheit und die damit einhergehende Kontrolle und Begrenzung kindlicher Handlungsspielräume.
[13] Doris Bühler-Niederberger: Geschichte der Kindheit, in: H. H. Krüger u.a. (Hrsg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24801-7_16-1
[14] Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung (1762). Ders., hg. eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang. Stuttgart 2012, S. 107. Zu Beginn des ersten Buches beschreibt der Autor die Grundsätze seiner Philosophie und Erziehungsmethode. Um diese dem Leser an Beispielen der Praxis zu veranschaulichen und für seine Pädagogik zu werben, entwirft er eine Modellsituation, in der ein Erzieher namens Jean-Jacques den Jungen Émile bis zu seiner Heirat mit der ihm seelenverwandten Sophie nach seiner Theorie ausbildet.
[15] Jean-Jacques Rousseau: Emile, S. 240.
[16] Hans-Heino Ewers: Kindheit als poetische Daseinsform: Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert, München 1989 und Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied/Berlin 1996. Winkler gibt aber auch Einblick in die alternative Dichotomie von ‚dionysischen‘ und ‚apollinischen‘ Kindern, die vor allem von Chris Jenks (Childhood, London 1996) als prägend für Vormoderne und Moderne angesehen wird und die kontrastierenden Annahmen entfalten, das Kind sei wahlweise (wie der ‚Wilde‘) im Kern böse, also zu zivilisieren, oder engelsgleich und unschuldig (S. 71-73).
[17] Meike Sophia Baader hat auf die Bedeutung des triadischen Geschichtsmodells für das romantische Kindheitsverständnis hingewiesen. Die romantische Idee des Kindes, S. 134ff, S. 139ff. Vgl. auch: Gina Weinkauff/Gabriele von Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur, Paderborn 2010, S. 49-53.
[18] So formuliert es Novalis in seinem Blüthenstaub-Fragment 97. Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 457.
[19] Herder parallelisiert Phylogenese und Ontogenese etwa in seiner Schrift: Auch eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit von 1774, Frankfurt am Main 1967, S. 13ff.
[20] Prozesse der Säkularisierung, Modernisierung und Pluralisierung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Individuen haben nicht nur die Romantiker beschrieben und beklagt, sondern auch Herder und Schiller, Goethe und Hegel. Exemplarisch sei hier auf Friedrich Schiller und seine Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen sowie auf seine Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung verwiesen. Auch für Schiller geht mit der Entwicklung der Vernunft der Verlust des Goldenen Zeitalters einher. Nun solle der Mensch in Freiheit, auf einer höheren und reflexiven Ebene, wieder an den Punkt kommen, den er zuvor natürlich innehatte. Den Vorschein dieses Zustandes kann die Kunst gewähren und ihn damit befördern.
[21] Friedrich Schlegel: Lucinde, S. 14.
[22] Baader nennt als Beispiel auch den Blick auf die Kinder in Goethes Werther. Auch hier artikuliere sich die Sehnsucht nach einer natürlichen Ganzheit, nach einer Überwindung der zerrissenen Gegenwart des Helden im Bild der Kinder mit ihrer Hingabe an den Augenblick. Kinder sind auch hier unverdorbene Wesen, mit einem reinen Selbst, das noch nicht im Konflikt mit sich selber liegt. Erst der Wissenszuwachs entzaubere die Welt, erst das Bewusstsein erzeuge Schmerz. Vgl. Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes, S. 52-59.
[23] Friedrich Schlegel: Lucinde, S. 14.
[24] Dies verdeutlicht auch der Hinweis: „Sohn oder Tochter, darüber kann ich keinen bestimmten Wunsch haben. Aber über die Erziehung habe ich schon unsäglich viel gedacht, nämlich, wie wir unser Kind vor aller Erziehung sorgfältig bewahren wollen“ Friedrich Schlegel: Lucinde, S. 67.
[25] Friedrich Schlegel: Lucinde, S. 14.
[26] Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken, in Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 2, S. 182f.
[27] Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Novalis Schriften, Bd. 1, S. 327.
[28] Zur christlichen Kindesverehrung: Matthäus 18,2-5: „Wahrlich ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“. Vgl. auch Yvonne-Patricia Ahlefeld: Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie der Romantik, Paderborn u.a. 1996.
[29] Friedrich Schlegel: Lucinde, S. 15.
[30] E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder, hg. v. Wulf Segebrecht, München 2008, S. 615. Vgl. auch Agnes Bidmon: Das fremde Kind, in: Christine Lubkoll/Harald Neumeyer (Hg.): E.T.A. Hoffmann Handbuch. Leben - Werk – Wirkung, Stuttgart 2015, S. 117-119.
[31] Martina Winkler: Kindheitsgeschichte, S. 76.
[32] Vgl. Meike Sophia Baader: Der romantische Kindheitsmythos und seine Kontinuitäten in der Pädagogik und in der Kindheitsforschung, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 3 (2004), S. 416-430.
[33] Klassischem Spielzeug steht man – wie im Märchen Hoffmanns - skeptisch gegenüber, da es als einengend und durch seinen Warencharakter korrumpierend empfunden wird. Vgl. Kirsten Bickel: Der Waldkindergarten, Norden Media 2001, hier S. 55. Vgl. auch: Sandra Schaffert: Der Waldkindergarten, in: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/paedagogische-ansaetze/moderne-paedagogische-ansaetze/der-waldkindergarten/
Auf die staatliche Anerkennung der Waldkindergärten folgte in den 1990er Jahren eine Gründungswelle, seither bestehen hierzulande etwa 300 Waldkindergärten.
[34] Kirsten Bickel: Der Waldkindergarten, S. 15-117.
[35] Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes, S. 221 ff.
[36] Siehe hierzu: Sandra Busch: Mütter der Romantik, S. 119.
[37] Auf die Schwierigkeiten der begrifflichen Zusammenführung durchaus heterogener pädagogischer Strömungen, die sich seit Beginn des 20. Jhts entwickeln, verweisen im Anschluss an Oelkers: Reformpädagogik, Sabine Andresen/ Meike Sophia Baader: Wege aus dem Jahrhundert des Kindes. Tradition und Utopie bei Ellen Key, Neuwied 1998, S. 112. Vgl. S. 111-129.
[38] Zu diesem Abschnitt: Meike Sophia Baader: Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim, 2004, S. 278. S. 275–286. Vgl. Winkler: Kindheitsgeschichte, S. 100.
[39] Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes, zuerst 1902, Neuausgabe Weinheim 1992, S. 120.
[40] Caroline Sommerfeld verortet sich selbst als politisch „rechts“: Wir erziehen. Zehn Grundsätze, Schnellroda 2020.
[41] Dies.: S. 153.
[42] Dies.: S. 100.
[43] Dies.: S. 15, 30 f.
[44] Vgl. Adam Müller: Zum Deutschen Staatsgedanken, in: Ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Hg. v. Walter Schroer und Werner Siebert, Bd. 1, Frankfurt am Main 1967, S. 94-104.
[45] Caroline Sommerfeld: Wir erziehen, S. 254. Kulturen werden dabei als „selbständige organische Lebewesen“ verstanden, deren „Seelenraum“ der Anspruch auf einen „Lebensraum“ korrespondiert. Im „Ethnopluralismus“, der ein vermeintlich an natürliche Orte gebundenes Nebeneinander verschiedener „Volkskörper“ vorsieht, werden nicht nur Argumentationsweisen erkennbar, deren Gefahren im Kontext einer „politischen Romantik“ längst ausbuchstabiert worden sind. Herders „Volksgeist“, Steiners Volksseelenkonzept und Petersens Begriff der „Volklichkeit“ werden hier aufgerufen. Caroline Sommerfeld: Wir erziehen, S. 311f.
[46] Dies.: S. 311f.
[47] Dies.: S. 212 ff.
[48] Dies.: S. 268.